Der Gedanke des zukünftigen Selbst

Man ist noch nicht der, der man sein wird. Das zukünftige Selbst ist jemand anderes als man selbst. Diesen Gedanken müssen wir äußerst ernst nehmen. In ihm steckt eine radikale Entscheidung, wie wir uns selbst sehen und was dieses Selbst eigentlich ausmacht.

Eine der ganz zentralen Unterscheidungen von uns ist die Unterscheidung zwischen uns selbst und anderen Menschen. Nehmen wir diese Unterscheidung ernst, folgt daraus, dass wir unser zukünftiges Selbst als jemand vertrauten und doch gleichzeitig anderen Menschen betrachten. Das zukünftige Selbst, das ist jemand anderes, als derjenige, der wir sind.

Unterscheiden wir uns selbst von anderen Menschen, ist die Akzeptanz, dass das zukünftige Selbst ein anderer Menschen ist, einer der ganz wichtigen Schritte in Richtung Widerspruchsfreiheit. Wir können nicht gleichzeitig sagen, dass wir das zukünftige Selbst sind, und das wir nicht die anderen sind. Entweder sind wir die anderen und unser zukünftiges Selbst oder nicht. Beides kann nicht widerspruchsfrei gedacht werden.

Dieser Widerspruch ist in unser Leben und damit auch in unsere Kultur getreten, als wir die Zukunft entdeckt haben. Genau in dem Augenblick, als wir uns unserer eigenen Zukunft bewusst geworden sind, wurden wir vor die Wahl gestellt. Geben wir die Naivität auf und glauben, an unser Selbst als ein Ding in ewiger Gegenwart oder erkennen wir unsere Vergangenheit und unsere Zukunft als in unserem vergangenen und zukünftigen Selbst verkörperte Personen, die wir nicht sind.

Genau an dieser Aufgabe entscheidet sich, ob wir die Trennmauer zwischen Egoismus und Altruismus aufsprengen können. Indem wir beginnen uns von unserem zukünftigen und unserem vergangenem Selbst zu unterscheiden, können wir die alte Unterscheidung zwischen Altruismus und Egoismus hinter uns lassen.

Wir können erkennen, dass unser heutiges Selbst von der Verantwortung unseres vergangenes Selbst abhängt. Wir sind sozusagen unser eigener Ahne, dessen Kultur und Errungenschaften wir in jeder Sekunde beerben. Respektieren wir sein Erbe? Gehen wir verantwortungsbewusst damit um? Empfinden wir ihm gegenüber Wut und Enttäuschung? Sind wir dankbar? Sind wir gleichgültig? Sind wir verwöhnte Bratzen, die Fürsorge als Selbstverständlichkeiten hinnehmen? Oder sind wir demütig und ehren Fürsorge durch unser Verantwortung in der Gegenwart?

Ebenso können wir uns als zukünftige Ahnen sehen. Dort in der Zukunft zeichnet sich die Niederkunft eines anderen Menschen ab. Er kriegt das und nur das, was wir ihm geben. Wir werden garantiert sterben, so wie jeder Augenblick vergehen wird. Was machen wir mit dem, was unser vergangenes Selbst uns übergeben hat? Verbrauchen wir all unser gegenwärtiges Hab und Gut, sodass unser zukünftiges Selbst arm und enttäuscht über die Selbstsüchtigkeit seines Ahnen verbittert? Oder erkennen wir die Unvermeidlichkeit unseres eigenen Untergangs an und sehen den Sinn unserer Existenz? Sehen wir, dass wir untergehen und der Untergang der Gegenwart der Zweck der Zukunft ist? Erkennen wir, dass die Gegenwart nur das Mittel der Vergangenheit ist, um zur Zukunft zu werden? Erkennen wir unsere Rolle als Botschafter zwischen Vergangenheit und Zukunft an?

Das sind abstrakte Gedanken, die sich doch ganz unmittelbar in der Welt manifestieren. Kümmern wir uns um unsere Gesundheit oder opfern wir unsere Gesundheit, um vergänglichen Spaß zu haben? Gehen wir lieber mit Bekannten Fastfood fressen oder mit unseren Freunden auf den Markt, um gutes Essen zuzubereiten? Verschwenden wir die Tage auf Facebook oder üben wir unser Musikinstrument? Nehmen wir unser Gespräch ernst oder sind wir zu faul genau und engagiert zuzuhören?

Wie können wir den Gedanken ernstnehmen? Wir handeln danach. Wir opfern die Gegenwart, wir opfern uns selbst, für die Zukunft, die ihre Verkörperung in unseren zukünftigen Ich findet. Wir nehmen uns Zeit über die Radikalität dieses Gedankens nachzudenken, intensiv und konzentriert. Denken ist anstrengend. Wer über eine Sache nachdenkt und danach nicht erschöpft ist, wie nach einer Stunde harter Arbeit, hat nicht gedacht.

Es ist ein Gedanke der so alt ist, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel: viele zehntausend, vielleicht sogar hunderttausend Jahre. Und er ist immer noch nicht zu Ende gedacht.

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