Phänomenologie als Schnittstelle von Wissen zur persönlichen Praxis

Phänomenologie ist eine Erforschung des Phänomenalen selbst. Der Satz liest sich zunächst als eine Binsenweisheit, doch in ihm steckt die verborgene Relevanz der Phänomenologie.

Sie ist die Schnittstelle Anwendbarkeit und damit der persönlichen Relevanz für uns als Menschen. Für uns als subjektive Wesen ist die Welt nicht als reale Ereignisse und Dinge an sich. Sie ist uns in Form von Phänomenen gegeben. Damit ist nicht die Möglichkeit der Realität genommen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Annahme, es gäbe keine von uns unabhängige Realität verletzt das subjektive Erleben von uns Menschen auf zwei Weisen:

  1. Wir irren uns und erleben unseren eigenen Irrtum. Diesen Irrtum können wir nur so verstehen, dass wir annehmen, dass wir einer realen Welt unangemessen begegnet sind. Wir haben falsche Schlüsse gezogen, haben auf Basis von Fehlannahmen gehandelt, werden von Dingen überrascht, an die wir nicht gedacht haben.
  2. Ohne die Annahme einer Quelle der Phänomene können wir das Phänomen nicht untersuchen. In den Begriff des Phänomens ist neben der Subjektivität des Erlebens bereits ein Objekt eingebaut, das unabhängig von unserem Geist ist. Wir erleben ein etwas, dass seine Existenz nicht nur durch das Erleben selbst gewinnt.

Betreiben wir Phänomenologie erforschen wir, wie sich eine von uns unabhängige Welt uns offenbart. Dabei stehen uns verschiedene Wege der Erkenntnis zur Verfügung.

  1. Akademische Forschung. Wir stützen uns dabei auf die Erkenntnisse, die in Form reinen Denkens gewonnen werden können. Begriffsarbeit, Argumente, Modellarchitektur sind einige der Mittel. Sie hat all selbstverständlich all die Stärken und Schwächen rein akademischer Forschung. Am Ende ist akademische Forschung nichts weiter als der Nebel eines Gespenstes, dass durch den Geist eines Menschen spukt.
  2. Empirische Forschung. Durch Experimente treten wir künstliche und isolierende Weise in Kontakt mit der Realität. Wir geben einen Teil der Freiheiten der rein akademischen Forschung auf, gewinnen aber durch den Kontakt mit der Realität Verlässlichkeit und Relevanz.
  3. Reflexion. Wir können dem Geist der Theorie ein Spukhaus geben, das wir direkt beobachten können: Unseren eigenen Geist. Der große Vorteil ist, dass wir unsere Subjektivität als Subjekte erleben können. Keine andere Erkenntnis liefert diese Passgenauigkeit für unser Leben. Das ist wichtig, denn am Ende sind wir selbst das Prisma durch das alles Wissen der Welt in unserer Lebenswelt scheinen muss.
  4. Das Gespräch. Wir reden mit anderen Menschen und schränken uns auf das ein, das wir kommunizieren können. Wir machen uns nicht nur die Erkenntnis anderer Menschen zu nutze, sondern zapfen die Kapazitäten fremder Subjektivität an.
  5. Handeln. Schlussendlich findet Erkenntnis durch das eigene Handeln statt. Wir können nicht als Bürokraten in unserer eigenen Lebenswelt wandeln. Unsere Fähigkeit unseren Irrtum einzugestehen hängt stark davon ab, ob wir bereit sind unsere Ideen das Abenteuer der Welt bestehen zu lassen. Einige, vielleicht sogar viele, werden nicht die zentralen Figuren von Heldengeschichten. Sie werden einen schnellen und stillen Tod sterben. Nur einige wenige werden überleben und die Lehren der Märtyrer als einen Teil von sich aufnehmen. Ideen werden zu unserem persönlichen Mythen, die mehr Wahrheit in sich haben, als jede Idee für sich genommen.
  6. Tradition und Religion. Traditionelles und religiöses Wissen ist auf eine besondere Weise geprüft: Es war für Zehntausende, sogar hunderttausende von Jahren dem Test der Zeit ausgesetzt. Ungezählte Vorfahren haben danach gelebt und es jenem Test des Handelns ausgesetzt, von dem im letzten Punkt die Rede war. In Traditionen und Religion steckt die Praxis unserer Vorfahren für grundlegende Strukturen des Lebens. Es ist das Kollektivste des kollektiven Wissens, dass sich seine Relevanz bewahrt hat. Es ist Handlungswissen.

Eine phänomenologische Erkenntnis kann erst als solche gewertet werden, wenn sie in allen, mindestens aber in vielen Ebenen der Erkenntnis gefunden werden kann.

Beispiel: Die Farbe Rot.

  1. Akademische Forschung. Rot ist Teil des Farbspektrums und damit Teil der Ästhetik. Rot ist eine Qualität und damit dem Qualia-Problem ausgesetzt.
  2. Empirische Forschung. Rot wird durch bestimmte Rezeptoren unseres Sehsinns aufgenommen und verarbeitet. Dabei spielt diese Farbe eine besondere Rolle in unserer Evolution. Es ist die Farbe von Blut, die Farbe sexueller Erregung und die Farbe reifer Früchte.
  3. Reflexion. Wir erleben wir die Farbe Rot? Was fühlen wir dabei? Wie verändert sich unser Erleben von Objekten, wenn sie eine anderen Farbe haben?
  4. Das Gespräch. Glauben andere Menschen, dass mir der rote Lippenstift gut steht?
  5. Handeln. Wie verändern sich die Verkäufe meiner Bücher, wenn ich den Buchdeckel in kräftigen Rotfarben gestalte?
  6. Tradition und Religion. Was ist die symbolische Bedeutung der Farbe Rot? Wie haben die eigenen Vorfahren Bezug auf diese Farbe genommen? Wie haben es andere Kulturen gemacht? Gibt es Gemeinsamkeiten?

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