Soziale Rollen als Schwierigkeit und Chance

Auf der einen Seite ist die unglaubliche Vielzahl sozialer Rollen eine große Herausforderung unserer Moderne, die oft in Krisen (vgl. Erik Eriksons 5. Stufe) um unsere Identität verbunden sind.

Nach meiner Beobachtung lösen Menschen das Problem vieler, sich oft wiedersprechender, sozialer Rollen häufig durch eine Reduktion eines Kerns aus unveränderbaren, persönlichen Eigenschaften zu Gunsten einer sehr kleinen und an viele soziale Gelegenheiten anpassungsfähigen, weichen Persönlichkeitsstruktur. Das leite ich aus Experimenten wie dem Stanford Prison Experiment ab.

In diesem Experiment, dass Phillipp Zimbardo eindrücklich in seinem Buch Luzifer-Effekt beschrieben hat, hat sich gezeigt, dass die Teilnehmer innerhalb von Stunden und nicht von Tagen ihre Verhaltensdisposition ihren Rollen angeglichen haben. Nur ein Teilnehmer hat dem Druck widerstanden und ist sich treu gegeben.

Das heißt, dass es gewöhnlich ist charakterschwach zu sein.1 Doch das heißt auch, dass wir Hoffnung haben dürfen. Es ist möglich, sich den äußeren Umständen zu widersetzen, um sich selbst nicht zu verlieren.

Du kannst bleiben, wer du bist. Das ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass du werden kannst, der du bist.

Jede soziale Rolle bietet eine Reihe von einzigartigen Anforderungen an uns. Es sind Gelegenheiten zu lernen und sich selbst zu entwickeln.

Ich habe beispielsweise drei Jahre lang einen Autisten mit Epilepsie und einer schweren geistigen Behinderung betreut. Schwere Anfälle mit vorhergehender Aggressionsattacke waren an der absoluten Tagesordnung.

Was habe ich aus dieser Zeit lernen können?

  • Ich habe lernen können, in Notsituationen absolut ruhig zu bleiben und einfach das Nötigste zu tun, um die Situation zu verbessern.
  • Ich habe gelernt, meinen Ekel zu überwinden. (Windeln wechseln, massive Spukeattacken)
  • Ich habe mich in echtem Mitgefühl und Toleranz üben können, denn die Eltern waren selbstverständlich absolut überfordert und haben teilweise nicht funktional gehandelt. Unter anderen Umständen und ohne Einblick hätte ich wohl wenig versöhnlich geurteilt. Indem ich ihre massive Überforderung erlebt habe, habe ich meine These entwickelt, dass es uns allen so geht und die meisten vermeintlich bösen Handlungen vielmehr aus Schwäche entschieden werden.
  • Ich habe gelernt, dass ein Mensch zu sein nichts Besonderes ist. In den oft sehr langweiligen Stunden ewiger Wiederholung von Handlungen hatte ich viel Gelegenheit nachzudenken. Obwohl denke, dass man danach streben sollte, möglichst menschlich zu sein, um das Mensch sein zu etwas Besserem zu überwinden, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es ein Ausdruck von Arroganz ist, wenn man das Menschsein zu etwas Erhabenem macht. Dazu mehr in dem Beitrag Sind Behinderte Menschen wie du und ich?.

Diese Veränderungen sind nicht selbstverständlich. Ich habe auch lernen müssen, mir selbst diese Veränderungen zuzurechnen.

Auf der einen Seite ist es Ausdruck von Bescheidenheit, dankbar für die Möglichkeit zu lernen und sich selbst zu verändern zu sein.

Auf der anderen Seite ist es eine logische Folge davon, dass man Verantwortung dafür übernimmt, dass man diese Situationen als Gelegenheit genutzt hat, dass man sich selbst “auf die Schulter klopft”.

Darin spiegelt sich die Haltung wieder „Ich tue etwas, um mich zu vervollkommnen.“ im Gegensatz zur Haltung „Ich bin Resultat einer Situation.“


  1. Ich wage sogar zu behaupten, dass das die Norm ist. 

One Response to “Soziale Rollen als Schwierigkeit und Chance”

  1. Mitleser

    Meine Beobachtung ist, dass viele Menschen sich ihrer Persönlichkeit, ihres Charakters und ihrer Werte nicht bewusst sind. Sie reagieren eher und versuchen möglichst, in der sozialen Suppe mitzuschwimmen.

    Und damit drehe ich dein: “Du kannst bleiben, wer du bist.” in ein “Du musst wissen, wer du sein willst.” um.

    Die wenigsten Menschen, die ich kenne, haben eine reflektierte Persönlichkeit. Situationen wie das Stanford Prison Experiment geben dem Menschen Handlungsmöglichkeiten. Wenn er aber nicht weiß, welche Handlungsoptionen für ihn akzeptabel sind, wird er zum einen verschiedene Handlungen ausprobieren, zum anderen aber auch der Masse folgen.

    Die Frage ist für mich nicht, wie gefestigt die Menschen in ihrer Persönlichkeit waren, sondern wie reflektiert und bewusst gewählt ihre Persönlichkeit überhaupt war.

    Das sind alles theoretische Überlegungen von mir, ohne Gültigkeitsanspruch.

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