Die letzte buddhistische Frage

Ich tauche unter, unter die Wasseroberfläche. Ich tauche in eine andere Welt. Sie ist nicht so grell, sondern gedämpft. Tauche ich tief genug, brauche ich meine Augen nicht mehr. Es tut mir weh, alles sehen zu können. Es ist nicht nur Schmerz, es ist Leiden, dass ich nicht scheiden kann. Tauche ich tief genug, brauche ich meine Ohren nicht mehr. Es tut mir weh, alles hören zu müssen. Es ist zu viel Geschrei in der Welt. Auch dieses Leiden will ich nicht mehr ertragen.

Ich hörte, jeder Mensch hat ein Licht in sich. Und die Welt braucht das Licht eines jeden Menschen, sonst ist sie ein düsterer Ort. In Düsternis tauchen schlimme Dinge so plötzlich auf wie ein Raubtier, dass in der Dämmerung zum Sprung ansetzt. Im Dunkeln wird jedes Geräusch zu Geschrei. Ich habe geglaubt und wollte mein Licht in die Welt bringen. In tiefem Glauben habe ich meine Brust geöffnet und mein kleines Licht scheinen lassen. Ich konnte sehen, dass Menschen klein und dunkel in der Ecke hockten. Ich lief zu einem von ihnen und habe sie geschüttelt: “Wach auf! Wir brauchen dein Licht! Bitte wach auf! Hier: Ich gebe dir mein Licht.” Und manch einer hat aufgeschaut und mein kleines Licht angesehen, als wäre es eine Kerze. Und so manches Auge leuchtete ein klein wenig mehr. So wuchs meine Hoffnung. Doch so schnell sie wuchs, so schnell verdorrte sie wieder. Niemand wollte leuchten und es war ihnen genug, wenn ihre Augen ein klein wenig funkeln konnten im Widerschein meines Lichts.

Ich habe mein Licht auf die Welt gebracht und das einzige, das es mir gebracht hat, war die traurige Erkenntnis, dass die Welt nicht an Licht mangelt. Es mangelt ihr an Wahrheit, Mut und Vertrauen. Und so habe ich meine Brust wieder verschlossen. Ich wollte nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Doch mein inneres Auge war geöffnet und meine inneren Ohren gespitzt.

Da bin ich zum See gegangen. Langsam und nachdenklich war ich. Warum sollte ich laufen? Wen kümmerte mein Leid? Es gab ja niemanden, der sich um mehr kümmerte als darum, alleine zu leiden. Sogar mir war es beinahe egal. Als ich am Ufer angekommen bin, ging ich weiter auf den Steg. Sein Holz war nass und kalt vom Regen. Ich drehte mich mit dem Rücken zur Kante des Stegs und blickte noch ein letztes Mal zurück. Ich sah noch ein letztes Mal die kauernden Menschen. Sie fühlten sich alleine, weil sie ohne ihr Licht nicht sehen konnten, dass sie ganz nah beinander waren. In einigen konnte ich Sehnsucht sehen. Einige hatten das Licht gesehen, dass jeder von uns hat, doch fehlte ihnen der Mut und das Vertrauen ihr eigenes Licht zum Leuchten zu bringen. Und viele Wangen waren nicht nur feucht vom Regen, sondern auch nass von Tränen.

Ich sah die Menschen noch einmal an und dann ließ ich mich fallen. Das Wasser schlug über mir zusammen. Es wurde dunkler und ruhiger. Ich sank auf den Grund des Sees und konnte weder sehen noch hören. Es gab nur noch mein Märchen. Ich öffnete mein inneres Auge und blickte die kleine Kerze in meiner Brust an. Und ich seufzte. Was war mein kleines Glück wert? Wenn Leiden nicht kümmert, ist Glück auch nicht wichtig. Ich wusste: Ich konnte an meinem kleinen Licht glücklich sein. Ich konnte bis ans Ende aller Tage an diesem ruhigen, ruhigen Ort liegen und mich an meinem kleinen, bescheidenen Glück erfreuen. Ich konnte mit Güte an die Menschen denken, die mit feuchten, nassen Wangen in der Dunkelheit der Welt kauerten. Ich liege hier auf dem stillen Grund des Sees, kein Gedanke taucht durch mein Wasser. Ich bin da und nichts weiter.

Was sollte ich tun, frage ich mich? Ich bin glücklich, so glücklich, dass es mich traurig macht. Ich muss lächeln, weil nun auch meine Wangen von Tränen genässt werden. Meine Güte und Mitleid überwältigt mich. Ich sehe und höre nichts, doch ich fühle, dass es da noch Menschen gibt, die mit nassen Wangen im dunklen Zwielicht kauern. Mein trauriges Glück lässt mich lächeln, denn auch das Gefühl wird allmählich leiser und verschwindet in die Ewigkeit. Und mit jeder Sekunde, die ich warte, wird es schwerer aufzutauchen.

4 Responses to “Die letzte buddhistische Frage”

  1. Tamara

    Hi Sascha, ist das von dir? Ohne jetzt mal auf den Inhalt einzugehen – es klingt von der Schreibmelodie ganz anders als das was ich sonst von dir gelesen habe. Sehr einfach und klar, aber dadurch nicht weniger eindringlich. LG T.

    Antworten
    • donnerundpflicht

      Moin Tamara,

      klar ist das von mir. Sonst würde ich das doch nicht veröffentlichen? :)

      Meine Selbsteinschätzung ist: Es ist eine andere Facette meines Stils. Ich schreibe im ganzen Spektrum von trockenen Sachtexten bis zu sehr freier Prosa. Dieser ist weniger trocken als die meisten anderen. Wahrscheinlich daher dein Eindruck?

      Jedenfalls: Danke für die Rückmeldung.

      — Sascha

  2. Tamara

    Ja, weniger Fremdwörter ;-) War flüssiger zu lesen. – Ich war mir auch nicht sicher, ob es von dir ist, weil mein Eindruck bisher war, dass du viel kämpfst. Jetzt schreibst du davon, dich rückwärts fallen zu lassen. Fand ich eine überraschende Entwicklung. // Wieso bekomme ich von dieser Seite keine Mail, wenn eine Antwort von dir drinsteht? Ist mir schon mal aufgefallen. Soll das so sein? LG

    Antworten
    • donnerundpflicht

      Ich denke, dass der Eindruck täuscht, weil die wenigen Texte, die ich veröffentliche keine repräsentative Auswahl meiner Texte sind, wenngleich dein Eindruck korrekt ist, dass das Element Kampf dominanter in meinem Denken ist.

      Bezüglich der Mails kann ich dir nicht helfen. Von den Einstellungen her solltest du per Kästchen die Mails aktivieren können.

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