Angst vor dem kollektiven Unbewussten

Das kollektive Unbewusste ist das Meer, auf dem wir schwimmen. All die Milliarden Generationen vergangener Zeitalter sind das Wasser diesen Meeres. Es ist der dunkle Wald, in den wir eintreten, um nach Nahrung, Kräutern und Paarung suchen.

An diesen Orten finden wir Geister, wütende und gütige. Wir finden Engel und Dämonen, Gott und Teufel, und ultimativ: Uns selbst. Doch die Erkenntnis, dass unsere Seele nicht nur eine Welt ist, sondern sich die Welt in uns befindet, dass Raubtiere, Dämonen und Engel ins uns wohnen, schon immer dort gewohnt haben und in alle Ewigkeit bleiben, kann Angst auslösen. Das ist gut so. Niemals darf man diesem Uralten nachlässig und ohne umsichtige Ehrfurcht umgehen.

Vielleicht brauchen wir ein moderneres Bild? Es sind uralte Maschinen in uns. Einmal angeschaltet entwickeln sie ein Eigenleben, entfesseln Kräfte, die wir nur mühsam unter Kontrolle haben können. Und wir müssen stark, sehr stark werden, damit wir Maschinenführer und nicht Maschinenentführte werden.

Unsere Aggression ist durch all die Vorfahren erworben, die im gnadenlosen Kampf ums Überleben getötet haben, um selbst zu überleben. Sie ist wichtig, denn ohne Aggression können wir nicht diejenigen beschützen, die wir lieben. Ohne Aggression können wir unser Unternehmen nicht vor Konkurrenten beschützen. Ohne Aggression können wir nicht wütend auf Lehrer sein, die unsere Kinder ungerecht behandeln. Ohne Aggression sind wir harmlos und damit kein Schutz.

Doch Aggression gerät sehr schnell außer Kontrolle. Eltern bestrafen ihre Kinder und gehen einen Schritt zu weit. Lehrer disziplinieren ihre Klasse und statuieren dabei ein Exempel. Wir wehren uns gegen einen Angreifer, hören aber nicht auf ihn einzuschlagen. Wir debattieren für gemeinsame politische Lösungen, aber sehen nur noch Gegner und Feinde. Wir wollen einen lieben Menschen von einem dunklen Pfad abhalten, doch beleidigen ihn, weil uns auch böse Mittel recht werden, wenn wir an unseren Zweck glauben.

Die Lösung kann nicht sein, dass wir unsere Aggression verlieren. Sie steckt in uns, sie ist nicht nur Kapazität, sondern auch Bedürfnis. Sie gibt uns Energie und diese Energie will eingesetzt werden. Wenn wir sie nicht in gute Bahnen lenken, dann sucht sie sich ihren Weg nach ihrem eigenen Gutdünken. Egal, ob die Bahn gut oder schlecht ist.

Sexualität ist eine andere Maschine, ein anderer Dämon — oder Engel. Seine Macht über uns können wir unmittelbar erleben. Doch am eindrucksvollsten sind Geschichten von Menschen, die von Sexualität besessen werden. Und besonders schlimm sind die Geschichten von Menschen, die noch als Kinder in Kontakt mit dieser Macht kommen. Einige sperren sie für immer weg, verschließen sich vor jeder Möglichkeit, sich jemandem wieder zu öffnen. Andere reißen die Tore weit auf, schwingen sich auf den Rücken eines zur Bestie werdenden Tieres. Sie krallen sich in seine Mähne und schlingen die nackten Beine, um den Körper ihres Reit- und Raubtieres. Doch es wird nicht lange dauern, dass sie zerkratzt und zerrissen von seinem Rücken fallen werden. Das Leben einer Bestie ist brutal und kurz.

Auch das haben unsere Vorfahren erkannt. Und wir haben uns eine Angst erworben, eine gesunde und vernünftige Angst. Es ist die Angst, die wir haben, wenn wir im Meer schwimmen und gewaltige Körper unseren Füßen durch das Wasser schneiden sehen. Es ist die Angst im dunklen Dämmerwald, wenn wir Äste knacken hören und nach glühenden Augen suchen, die nach uns Ausschau halten.

Die Beschäftigung mit der eigenen Seelenwelt macht Angst, weil wir in uns Fremdes und Bedrohliches entdecken werden. Was heißt es, wenn eine Frau Vergewaltigungsfantasien hat? Was heißt es, wenn ein Mann sich vorstellt, den Widerstand einer Frau zu brechen und sein Körper mit Erregung geflutet wird? Was ist, wenn eine Mutter sich vorstellt, ihre Kinder zu verlassen und nicht nur Angst fühlt, sondern auch die Verlockung einer von ihr genommenen Last? Was ist, wenn man die Kinder diszipliniert, aber in der Erinnerung daran feststellt, dass man ein kleines bisschen Freude dabei hatte? Was ist, wenn man eigentlich für einen schwachen Menschen da sein wollte, doch ein paar Worte gesagt hat, um die Schwäche zum eigenen Vorteil zu nutzen? Was ist, wenn wir uns mit einem lieben Menschen streiten, und uns beim Anblick seiner Tränen freuen, weil wir uns als Sieger fühlen?

In den Tiefen unseres kollektiven Unbewussten schlafen, erwachen und dämmern gewaltige Kräfte, weil wir sie zum Leben schon immer gebraucht haben und weiterhin brauchen werden.

Wir können sehen, was Menschen schaffen, wenn sie diese Kräfte in sich nutzen, sich auf den Rücken dieser Raubtiere schwingen. Wir sehen es an der Besessenheit der olympischen Athleten, die vier Jahre lang jeden Tag so wahnsinnig trainieren, dass sie weinen und kotzen, ihre Muskeln reißen und ihre Knochen brechen. Wir sehen es an der Besessenheit von Menschen wie Elon Musk, die nicht mehr aufhören können zu denken. Wir sehen an Menschen wie Martin Strel, der den Amazon durchschwommen ist, ignorierend, dass Piranhas im ein Loch in den Rücken fressen. Doch wir können es auch daran sehen, dass gewöhnliche Menschen jüdische Mütter in den Hinterkopf schießen. Wir sehen es an den Vergewaltigungen von Nanking. Wir sehen es am Fall Kriminalfall Höxter.

Was ist also die Angst vor dem kollektiven Unbewussten? Es ist die Angst davor beherrscht zu werden oder sogar festzustellen, dass man beherrscht wurde und immer noch beherrscht ist. Es ist die Angst eines Beutetiers vor seinem Jäger. Es ist die Angst, Wahrheiten über sich zu entdecken, die einem weh tun. Es ist die Angst davor, dass die wohlige Decke der Naivität zu verlieren. Es ist die Angst, sich selbst nie wirklich gekannt zu haben.

Deswegen schützen wir uns oft, dass wir nicht glauben, dass das Böse in uns steckt. Wir verschließen unsere Augen davor, dass unsere eigentlich guten Absichten nur Selbsttäuschung sind und wir eigentlich von Rache und Verbitterung getrieben sein können. Manchmal suchen wir verzweifelt danach Opfer zu sein, weil wir uns dann erlauben können, was wir Tätern neiden.

Doch es bleibt eine Aufgabe des Lebens. Wir müssen in den Wald gehen und uns selbst entdecken. Wir müssen akzeptieren, dass wir uns selbst fremd — sehr fremd — sein können. Wir müssen diesen uralten Kräften ins Auge blicken.

Unsere Vorfahren wussten es. Schamanen und Schamaninnen haben Jungen und Mädchen an heilige Orte geführt und sie mit uraltem Wissen vertraut gemacht. Jungen und Mädchen sind rausgegangen in die Wildnis und sind als Männer und Frauen zurückgekehrt.

Nietzsche wusste es:

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Der alte Mann wusste es:

Ich fragte mal einen alten Mann: “Was muss ich tun, in dieser Welt, damit ich großartig werde, in dieser Welt?” Er starrte mich an. “Zum großen Schmerze musst du gehen.”

Charles Bukowski wusste es:

If you’re going to try, go all the way. Otherwise, don’t even start. This could mean losing girlfriends, wives, relatives and maybe even your mind. It could mean not eating for three or four days. It could mean freezing on a park bench. It could mean jail. It could mean derision. It could mean mockery — isolation.

Ultimativ wissen wir es selbst. Und das Leben gibt uns nur eine Chance. Wir haben nur dieses eine Leben. Es gibt nur eine Art das Leben zu ehren: Unsere eigene Endlichkeit zu akzeptieren, mutig sein und nach unserem Platz zu suchen — eine einzige Chance ist uns gegeben, einen winzigen, winzigen Platz in der großen Unendlichkeit zu erlangen.

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