Das Selfie als gläsernes Gefängnis

Was ist der Akt des Selfies für ein seltsamer Prozess. Ich beobachtete eine korpulente, junge Frau dabei. Ein Bild für das Facebookprofil entsteht in einem Prozess, der 15-20min dauert. Ein Selfie scheint kein Schnappschuss zu sein, sondern ein gefrorener Lebensabschnitt.

Ich weiß nicht, ob dies Ereignis repräsentativ ist. Doch selbst die bloße Existenz dieses Ereignis, bringt mich zum erstaunen.

Es ist ein Akt einsamer Selbstdarstellung. Doch vor wem stellt sie sich in diesem Augenblick dar? Kann Einsamkeit in einer Selbstinszenierung einen Ort finden? Vielleicht ist dies ein Akt die Einsamkeit, ohne die Hilfe eines anderen Menschen zu bekämpfen? So werden die Kulturtechniken des Selfies noch tiefer in unser Leben eingebrannt. Eine Kultur der Einsamkeit, die versucht durch Einsamkeit dieselbige aufzulösen. Einsamkeit und Selbstdarstellung finden zur gleichen Zeit und am gleichen Ort statt und formen so eine der seltsamen modernen Paradoxien.

Es ist eine traurige Szene, die übrigens immer noch andauert, während ich diese Zeilen schreibe.

Vielleicht ist das Schreiben dem Selfie gar nicht zu unähnlich. Ich werde diese Zeilen sicherlich einige Male korrigieren. Ich sehe dieses Schreiben sogar als eine Reproduktion meines Selbst. Sind Texte in diesem Sinne nichts weiter als Selfies?

Warum habe ich eine so schlechte Meinung von Selfies? Ich glaube, meinem Gefühl vertrauen zu können, dass das schrieben mich zu einem besseren Menschen macht. Es ermöglicht mir einen Gedanken klarer zu fassen. Es ermöglicht mir ebenfalls diesen Gedanken zeitunabhängiger als das gesprochene Wort zu verbreiten – in der Hoffnung, andere Menschen zu anderen Gedanken und vielleicht sogar Texten zu bewegen. Vielleicht habe ich ja einen wertvollen Gedanken entdeckt, der mich und die Menschen verbessert?

All diese Dinge sehe ich beim Selfie nicht. Es ist das moderne Selbstporträt. Es zeigt aber nicht, wie wir uns selbst sehen. Es zeigt, wie wir gesehen werden wollen. Es zeigt einen Wunsch.

Das Selfie transportiert diesen aber nicht mit. Wir zeigen nicht den Prozess der Entstehung und öffnen uns auch nicht, in dem wir unseren Wunsch und vielleicht sogar unsere Gefühle dabei mitkommunizieren. So bleibt das Selfie als Versteck unseres wirklichen Selbst, mit seinen all seinen Schwächen und seiner Verletzlichkeit. In diesem Versteck ist auch die Möglichkeit, wirklich erkannt zu werden, verborgen.

Dieser Verhaltenskomplex scheint wie eine Schutzhülle, die ihren Bedarf selbst erzeugt. Wir werden nicht gezwungen, uns im Social Media zu exponieren. Doch das Gleiche gilt für so viel soziale Umfelder. Vielleicht ist dies das Einzigartige der Familie. Sie scheint das einzig Unausweichliche zu sein.

Das Selfie rückt damit in die gleiche Kategorie wie Schminke, Mode und ähnliche Formen der Selbstdarstellung. Wir suchen den Kontakt, scheuen aber die tatsächliche Berührung und schützen dabei unsere Unsicherheit. Unser Kontakt mit anderen Menschen wird dadurch ausgehöhlt. Das Bedürfnis bleibt in seiner Tiefe unbefriedigt.

Vielleicht steckt da das Fastfood-Prinzip dahinter. Es werden nur die oberflächlichen Kriterien für Genuss erfüllt, so dass wir uns da hingezogen fühlen. Doch ohne Tiefe, wie Vitamine und andere Mikronährstoffe, überfressen wir uns an Fett, Salz und Kohlenhydraten.

Genauso überfressen wir uns an Smalltalk, Aufmerksamkeit und FB-Likes. Doch tiefe Bindung, Zuneigung und Vertrauen fehlen. Obwohl wir dies genauso verstehen, wie wir auch verstehen, dass eine Pizza uns mit einem schalen und ungenährten Gefühl hinterlässt, stürzen wir uns in die nächste Party, melden uns bei Tinder an und spielen unsere Rolle im Schmierentheater, zu welchem unser Sozialleben heute geworden ist.

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