Die Tyrannei des Reisens

Vorbemerkung: Das ist eine (unkorrigierte) Email von mir, deren Anlass der Artikel The Hardest Part of Traveling war.


Da triffst du einen empfindlichen Punkt bei mir. Zumindest einen häufig durchdachten Punkt, denn das Reisen ist bei mir in der Schule glorifiziert und als eines der zentralen Mittel der Selbstfindung im Leben.

Erst jüngste Forschungen von mir in Richtung “Optimale Erfahrung” und “Posttraumatisches Wachstum” haben meinen Standpunkt etwas aufweichen lassen. Im Ergebnis ändert sich für mich aber nichts.

Die Leute, die als Idioten Deutschland verlassen haben, sind als Idioten wiedergekommen, die Leute, die Deutschland als coole Typen (oder Typinnen) verlassen haben, sind cool wiedergekommen. Aber einige wollten mir verklickern, dass sie total verwandelt wurden. Jetzt verstehe ich endlich, woher diese Ansicht kommt.

Vorbemerkung: Ich habe mir endlich für viel Geld die kritische Studienausgabe von Nietzsche geholt. Das klingt schon fast selbstzerstörerisch, wenn ich sage: Ich fühle mich ihm in seinem Denken so verwandt, wie zu einem (fiktiven) Onkel, der so verrückt ist, dass er einem ein gerade ein bisschen zu viel Angst macht, während man ihn gleichzeitig bewundert.

Ich nehme Anstoß daran, dass konsekutives Reisen als Zweck an sich verstanden wird. Es ist das Reisen selbst mit seinen Herausforderungen, das mit einem Lebensinn verwechselt wird. Eine Reise, zumindest eine Echte, ist eine optimale Erfahrung in dem Sinne, als dass sie ein Mikrotrauma ist. Man durchläuft Herausforderungen, wächst an ihnen, hat Krisen und wächst auch an diesen. Aber: Jede Reise ist ein kleiner Mikrokosmos, eine kleines Leben in sich. Sie kann in sich sinnvoll sein, aber es gibt nichts, was ihren Sinnzusammenhang im Gesamtkontext des Lebens garantiert. Und damit ist mein Urteil gefällt und vernichtend:

Sinn ist etwas, das in Zeit verstanden wird. Der größte persönliche Sinn, ist der Lebenssinn. Dieser Begriff wird immer glorifiziert und mystifiziert, aber wenn man es genau nimmt, dann kann man ihn einfach halten und damit leicht wiedergeben: Der persönliche Lebenssinn ist die Sinneinheit, der sinnvolle Zusammenhang, der sich über das gesamte Leben erstreckt. Man kann seine Intentionen auch darüber hinaus strecken und etwas nach sich erschaffen wollen wie Kinder oder eine bessere Welt.

Wenn wir diesen Sinn verkleinert, das heißt verkürzen ihn, kommen wir irgendwann bei ganz kurzen Zeiteinheiten an. Es kann Sinn machen, jetzt links abzubiegen und danach rechts. Aber wenn man dann zu einer Arbeit fährt, die den innersten Überzeugungen widerspricht, hört der Sinn ganz schnell auf und der nächste beginnt. Wenn das Leben dann wie ein Flickenteppich aussieht und winzige Sinneinheiten versprenkelt über das Leben verstreut sind, hat man eben auch kein Sinn im Leben, nur im Moment.

Da ist auch klar, warum der Moment und Spontaneität in der Moderne als die wichtigen Zutaten von Lebensglück beworben werden. In unserer fragmentierten, ersten Welt ist das einer der letzten verbleibenden Zugänge zu Sinn. Deswegen rennen alle Menschen immer dem nächsten Kick hinterher, denn da könnte sich ja der Sinn verstecken. Eine Aufgabe des Belohnungs- oder auch Lernzentrums mit seinem Dopamin ist, einzelne Erfahrungen hervorzuheben, damit wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten.

Ein Reisender hat es geschafft, sich konsekutiv immer wieder einen neuen Mikrokosmos zu schaffen. So wie du schreibst: es ist das Schaffen selbst, dass einen Schaffenden mit Spaß erfüllt. Aber irgendwann wird auch das zu Routine, denn: Auch dieser Mikrokosmos kann fragmentieren und so zu einem langweiligen Alltag werden. Er verliert seinen Sinn.

Damit ist das Reisen für mich nur eine Sackgasse, wenn man nicht ihren Platz in den letzten Kontext bringt: Das Leben.

Übrigens hat der Buddhismus in diesem Punkt mal wieder gepunktet: Gibt man sein Ego auf, erfährt man, dass alles nur eine einzige Erfahrung ist, die sich über die gesamte Welt, Zeit und Individuen erstreckt. Damit zielt der Buddhismus auf die größte Sinneinheit ab, die ich kenne.

Leave a Reply

  • (will not be published)

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>