Gut und Böse als Archetypen von richtig und falsch

Wir können eine Unterscheidung zwischen der Domäne des religiösen und der Domäne der Ethik ziehen:1

  1. Ethik befasst sich mit der Frage nach guten und schlechten Handlungen.
  2. Religion befasst sich mit der Frage nach dem Archetypus guter und schlechter Handlungen: Gut und Böse

Diese Unterscheidung können wir am Beispiel der Formulierung von Jordan Peterson nachvollziehen.

The philosophical study of morality – of right and wrong – is ethics. Such study can render us more sophisticated in our choices. Even older and deeper than ethics, however, is religion. Religion concerns itself not with (mere) right and wrong but with good and evil themselves — with the archetypes of right and wrong. Religion concerns itself with domain of value, ultimate value.[102][#peterson2018] (Meine Hervorhebungen)

Diese beiden Hervorhebungen zeigen wichtige Unterschiede:

Even older and deeper than ethics”: Die Frage nach richtigem Verhalten ist sehr viel älter als jede philosophische Überlegung und auch älter als die Sprache selbst. Religion hat sich organisch entlang der Entstehung unser Fähigkeit über Fragen von richtig und falsch entwickelt.

Religion beinhaltet nicht nur die Weisheit, die über zehntausende Jahre alte Lernprozesse gewonnen wurde. Sie beinhaltet nicht die Lernprozesse, die über ungezählte Generationen hinweg überliefert wurden. Weil Religion organisch das aufnimmt, was sich zuvor als sinnvoll erwiesen hat, beinhaltet sie nicht nur kulturelle Weisheiten, sondern auch biologische Weisheiten.

Sehen wir uns als Beispiel eine der berühmtesten Stellen der Bibel an.

Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. (Matthäus 25,29)

In dieser Stelle finden wir eine archetypische Struktur wieder. In der Forschung über Systemverhalten finden wir diese als positive Rückkopplung wieder. Suchen wir nach ihren Entsprechungen finden wir sie überall wieder. Dieses Wiederfinden meint, dass wir unendlich viele Beispiele dafür finden, dass es wirklich so geschieht: Wer hat, dem wird gegeben. Wer nicht hat, dem wird genommen.

  1. In Auseinandersetzungen um Dominanz im Tierreich gewinnt der Sieger nicht nur den Kampf, sondern verbessert seine emotionale Belastbarkeit für zukünftige Kämpfe. Der Verlierer verschlechtert dagegen seine emotionale Belastbarkeit. Wer gewinnt, gewinnt nicht nur. Er verbessert gleichzeitig seine zukünftigen Chancen auf den Sieg. Wer verliert, verliert nicht nicht nur den einzelnen Kampf. Er wird auch schlechter im Kämpfen.
  2. Disziplinierte Entscheidungen in unserem Leben führen nicht nur zu besseren Zuständen in unserem Leben. Sie verbessern gleichzeitig auch unsere Fähigkeit disziplinierte Entscheidungen zu treffen. Je disziplinierter ich mich verhalten, desto disziplinierter werde ich mich auch in Zukunft verhalten. Verhalte ich mich dagegen undiszipliniert, werde ich mich in Zukunft undisziplinierter verhalten.
  3. Je erfolgreicher ich rein monetär als Unternehmer bin, desto mehr Möglichkeiten öffnen sich mir, um Geld zu verdienen. Verschlechtert sich der Erfolg des Unternehmens, verschlechtern sich auch die unternehmerischen Möglichkeiten in der Zukunft.
  4. Wenn ich mich in einer Partnerschaft liebenswürdig verhalte, wird mich mein Partner/meine Partnerin mehr lieben. Er/sie wird sich im Gegenzug liebenswürdiger verhalten, sodass ich sie mehr lieben werde. So erhöht verstärkt sich mein Wunsch, mich liebenswürdig zu verhalten. Das Gleiche gilt für schlechtes Verhalten. Ich verhalte mich weniger liebenswürdig, sodass ich weniger geliebt werde.

Diese Bibelstelle ist kein Zeugnis darüber, was Jesus für ein krasser Typ ist. In ihr kulminiert eine Weisheit, die seit Millionen von Jahren gültig ist. Sie ist sogar für die Dominanzhierarchie von Hummern gültig. Sie selbst wiederum ist eine in Millionen von Jahren erlernte Methode, ein soziales Problem zu lösen. Würden wir dies als den Beginn des Lernprozesses annehmen, müssen wir diese Bibelstelle als eine Weisheit verstehen, die sich seit mindestens 350 Millionen von Jahren bewahrheitet hat.

Die Korrektheit von Jordan Petersons Charakterisierung von Religion als älter und tiefer als Ethik ist kaum zu überschätzen.

“Ultimate value”: Viele ethische Probleme hängen von den Axiomen ab, von denen man ausgeht. Das grundlegende Problem von Ethik ist das Problem des infiniten Regresses. Wir finden weder einen sicheren Anfang unserer ethischen Überlegungen, noch finden wir eine sichere Letztbegründung, wenn unsere ethischen Überlegungen hinterfragt werden. Der beste aller Ethiker versagt bereits dann, wenn er sich vor einem Papagei rechtfertigen müsste, der nur ein einziges Wort kennt: “Warum?”

Die peinliche Lösung der Ethiker ist es, von angeblichen intuitiven Einsichten auszugehen, ohne jedoch zu hinterfragen, woher diese Intuitionen kommen.

Es ist die mythologische Grundstruktur religiöser Prägung, auf denen diese Intuitionen basieren. Unsere Intuitionen sind so alt wie das Leben selbst. Deswegen finden wir Prinzipien der Fairness bei bei anderen Tieren wieder. Affen reagieren auf ungleiche Verteilung von Belohnungen mit Wut. Dominante Ratten lassen die schwächere auch mal gewinnen.

Fairness, gleiche Regeln für alle Beteiligten des Spiels, ist ein unglaublich altes Konzept, das tief in unserer Intuition verwurzelt ist.

Ethik schöpft lediglich die dünne Geschichte unserer Rationalität ab. Wenn wir die europäische Ethik als Beispiel wählen. Ist Ethik als rationales Unterfangen ungefähr im sechsten Jahrhundert vor Christus geboren. Der Versuch eine Ethik auf rein rationalen Überlegungen fußen zu lassen, erlaubt es uns lediglich auf Lernprozesse zurückzugreifen, die ein paar Tausend Jahre alt sind. Oder anders: Moderne Ethik ist rationalistische Ethik, die versucht, alle Lernprozesse aller Generationen vor ein paar Tausend Jahren zu ignorieren.

Dabei macht sie eben den Fehler, den sie selbst als Kardinalfehler der ethischer Überlegung bezeichnet: den naturalistischen Fehlschluss. Aus dem Sein folgt kein Sollen.

Doch eben jene Intuition, auf die sich Ethiker irgendwann resigniert zurückziehen und sagen: Das ist doch klar. Unsere Intuition sagt uns dies oder jenes. Oder: Von diesen von selbstevidenten Wahrheiten gehen wir aus.

Doch diese Intuitionen sind Produkte der Natur und der letzte Rückzug auf Intuitionen heißt nicht nur, dass man Sein und Sollen verwechselt. Man verdrängt diese Verwechslung sogar.

Anstelle dessen sollten wir Religion als die Verbindung zwischen Jahrmilliarden alten Lernprozessen und unserer Gegenwart ernstnehmen. Das Sollen ist aus dem Sein gewachsen. Die Frage ist, wie die Wurzeln der Rationalität in der Natur und unserer evolutionären Geschichte verwurzelt sind. Unsere Intuitionen sind Axiome unseres Glaubenssystems. Wir können unsere Milliarden Jahre alte Geschichte des Lebendigen nicht vernachlässigen.


  1. Jordan B. Peterson (2018): 12 Rules For Life: An Antidote to Chaos, Canada: Random House Canada, S.102. auf Amazon ansehen 

Leave a Reply

  • (will not be published)

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>