Verletzlichkeit als Voraussetzung von Stärke

Eine wichtige Grundhaltung von Donner und Pflicht ist die Liebe zur Kraft. Stärke und Macht sind zunächst einmal Fähigkeiten und geben uns die Freiheit etwas zu tun.

Etwas zu können, bedeutet die Möglichkeit von Handlungen zu erweitern und Stärke, sei sie innerlich oder äußerlich, gibt uns die Freiheit unser Leben zu aktiv gestalten.

Sogar banale Dinge wie die körperliche Kraft und Ausdauer können schon einen großen Unterschied machen. In unserer modernen Zeit ziehen wir häufig um und ein Umzugsunternehmen zu engagieren ist für viele zu teuer. Es ist die körperliche Stärke von uns und unseren Freunden, die entscheidet, wie sich der Umzug gestaltet.

Wir fühlen Sicherheit, wenn wir wissen, dass wir viele kräftige Menschen haben, sodass die physische Anstrengung nicht zur bedrohlichen Aufgabe wird.

Sind wir die körperlich Starken, können wir den anderen von Nutzen sein, ihnen helfen und etwas geben.

Mit innerer Stärke verhält es sich ebenso. Einerseits empfinden wir Sicherheit, wenn wir wissen, dass wir Menschen in unserer Nähe haben, die psychisch stabil sind. Wo sollen wir uns anlehnen, wenn wir keinen fest Halt sehen? Wie können wir uns fallen lassen, wenn wir nicht wissen, ob der Gegenüber noch genug Kraft übrig hat, damit wir ihm einen kleinen Teil unserer Last übergeben können, um durchzuatmen?

Andererseits fühlen wir uns als seelisch starke Menschen gut. Wir können für andere da sein und ihnen Halt geben. Wir verlassen uns auf unsere Energie und Unverwüstlichkeit. Wir wissen, dass sich andere Menschen an uns wenden können und erkennen unseren Wert für andere Menschen. Ist man stark, ist es leicht sich wertvoll zu fühlen.

Eingangs habe ich geschrieben, dass Donner und Pflicht Liebe zur Kraft bedeutet. Was sind die Gefahren beständiger Stärke?

Verletzlichkeit und Schwäche bedeuten Bindung. Erst darin machen wir uns dem Gegenüber ebenbürtig. Wenn wir jedoch immer davon ausgehen, dass wir stärker sind, dann installieren wir von ein Machtverhältnis.

Das ist nicht unbedingt etwas Negatives. Wenn wir beispielsweise mit Kindern umgehen, ist dieses Machtverhältnis sehr deutlich. Unsere Aufgabe bei der Erziehung von Kindern ist es, ihnen Raum zu geben ihre eigenen Stärken und Schwächen zu erkunden. Wir müssen, ihnen zu helfen ihre Stärken zu vergrößern und ihre Schwächen zu verringern.

Schlussendlich ist es unsere Aufgabe, dass Kinder lernen, sich selbst die Sicherheit zu geben, die wir ihnen als Fürsorge zu Verfügung stellen. So werden sie selbstständig.

Was ist jedoch, wenn wir einem Menschen von Gleich auf Gleich begegnen wollen? Eine solche Einbahnstraße von Fürsorge, Halt und Schutz installiert eben jenes Verhältnis von Macht, in welchem wir mit unseren Kindern stehen.

Lassen wir unsere eigene Verletzlichkeit nicht in die Beziehung zu einem anderen Menschen einfließen, können wir keine Partnerschaft mit diesem führen, egal ob intim oder platonisch.

Wir können nicht beides haben. Wir können nicht beständig in der starken Position verbleiben, Kraft und Energie nur in eine Richtung fließen lassen und gleichzeitig diesem Menschen von Gleich auf Gleich begegnen.

Verletzlichkeit und Schwäche sind wichtige Elementen einer partnerschaftlichen Beziehung, sei es Freundschaft oder Intimbeziehung.

Selbstvervollkommnung heißt, dass wir unsere Schwächen mildern und unsere Stärken ausprägen. Haben wir uns entschlossen Selbstvervollkommnung als Lebensweg zu wählen, werden wir feststellen, dass es schwieriger wird, Menschen zu finden, denen wir von Gleich auf Gleich begegnen können. Das heißt nicht, dass man den Gegenüber notwendig abwerten muss, gleichwohl dies auch eine Möglichkeit ist, mit dieser Herausforderung der Vervollkommnung umzugehen.

Wenn du dich entschließt dich selbst zu entfalten, die stärkste Version deiner Selbst zu werden, solltest du dir vor Augen halten, dass Menschen dir nur von Gleich auf Gleich begegnen können, wenn sie ähnlich weit auf ihrem Lebensweg gegangen sind wie du. Sie brauchen eine ähnliche Stärke wie du.

Sind sie es nicht, wird dir die Entscheidung auferlegt. Entweder entfernst du dich vom Weg der Selbstvervollkommnung oder du lebst in einem Machtgefälle, was verhindert, dass du diesem Menschen von Gleich auf Gleich begegnen kannst.

Wenn du jedoch einen Menschen triffst, dem du von Gleich auf Gleich begegnen kannst, heißt es noch lange nicht, dass dies von ganz alleine passiert. Wenn du niemals Verletzlichkeit zulässt, verschließt du dich vor diesem Menschen. Die Verbindung wird oberflächlich, weil du einen Teil von dir aus dieser Beziehung herausnimmst.

Du führst diese Beziehung so nicht von Gleich auf Gleich. Das liegt an verschiedenen Zusammenhängen.

  1. Wenn du davon ausgehst, dass der Gegenüber bereit ist dich zu verletzen, gehst du von seinem Mangel an moralischer Integrität aus.
  2. Wenn du davon ausgehst, dass er nicht genug Kraft hat, um sich mit deinen Problemen zu beschäftigen, du dies aber mit seinen tust, setzt einen Mangel an psychischer Stabilität voraus.

In beiden Fällen begegnest du deinem Gegenüber nicht auf Augenhöhe. An dieser Stelle ist ein Entscheidungszwang zu finden:

Entweder du führst eine Beziehung von Gleich auf Gleich oder du verbirgst deine Verletzlichkeit.

Ist Verletzlichkeit wirklich eine Schwäche? Ist es eine Ausprägung von Schwäche, wenn ich meinem gegenüber ungefiltert meine Emotionen zeige, sodass ich Enttäuschung und Ablehnung riskiere?

Für Risiko braucht man Mut. Normalerweise empfinden wir das Risko von Enttäuschung und Ablehnung als Gefahr. Du musst mutig sein, um Verletzlichkeit zuzulassen.

Schwäche und Stärke treffen sich in dem Moment, in welchem wir unsere Verletzlichkeit offenbaren. Das ist Stärke zweiter Ordnung.

So wird Verletzlichkeit als empfundenes Risiko zur Voraussetzung für eine andere Form der Stärke und zur Voraussetzung von tiefer Bindung auf Augenhöhe.

Die Entscheidung ist nun entfaltet:

Auf der einen Seite stehen Macht und Stärke erster Ordnung. Auf der anderen Seite stehen eine Beziehung auf Augenhöhe, Mut und Stärke zweiter Ordnung.

So äußert sich das Zulassen von Verletzlichkeit durch Selbstoffenbarung selbst wiederum als Stärke.

So ist auch die Paradoxie entfaltet. Wie kann Verletzlichkeit mit Stärke einhergehen? Durch Verletzlichkeit beweisen wir unsren Mut.

Doch dies ist keine Utopie. Wer Verletzlichkeit zulässt, kann tatsächlich verletzt werden. Du solltest dich entscheiden, ob eine Beziehung auf Augenhöhe wirklich etwas ist, was dir das Risiko wert ist.

Doch auch, wenn du dich gegen eine Beziehung auf Augenhöhe entscheidest, gibt es Kosten. Du drängst einen Menschen dadurch in eine schwache Position und machst dich unter Umständen zu einer schwächenden Kraft im Leben eines anderen Menschen. Willst du in Kauf nehmen, dass du deinen Partner beständig schwächst?

Jede Hilfe und Unterstützung bedeutet, dass du deinem Partner eine Gelegenheit nimmst, innere Stärke zu finden. Nimmt dein Partner diese Hilfe an, entscheidet er sich für dich als Stütze und vielleicht auch als Krücke. Der oder die Eine bleibt schwach. Das ist die unausweichliche Folge eines solchen Verhältnisses.

Kann sich dieses Verhältnis im spätere Verlauf ändern? Gegen die Möglichkeit spricht nichts. Doch will man diese Veränderung als Teil seiner gemeinsamen Geschichte aufnehmen?

3 Responses to “Verletzlichkeit als Voraussetzung von Stärke”

  1. Erik Pfeiffer

    Danke für diesen Artikel. Kann dir bis zur Mitte und am Ende voll und ganz zustimmen.

    Ab dann wendest du m.E. einen Selbstvervollkommnungsbegriff an, der zu universal gedacht ist. Viel realistischer sind Lücken im Streben. Parallele Entwicklungswege sind auch viel wahrscheinlicher, die sich dann in der Partnerschaft ergänzen können? Vielleicht gibt es einen vollkommenen Mensch gar nicht ohne seinen Partner, den er liebt? Und wenn die Liebe nicht auf der Entwicklungsdimension basiert, dann spielt es keine Rolle ob der Partner Selbstvervollkommnung in allen Bereichen lebt. Und die Liebe ist auch bedingungslos und sollte auch nicht an diese Bedingung verknüpft sein.

    Je stärker die Interessen der Partner bezüglich der Selbstvervollkommnung desto besser ist die Partnerschaft auf freundschaftlicher Ebene. Auch wenn es abfärben kann muss sie dann nciht zwingend besser auf liebes- und sexuelles Ebene sein. Deswegen weiß ich nicht, ob sich dieses gleich-auf-gleicher Ebene Begegnen auch so konsequent auf Partnerschaft übertragen lässt.

    Selbst wenn du von m.E. wackligen Prämissen ausgehst finde ich die Folgerung Verletzlichkeit zu zeigen sehr positiv und wichtig!

    Mich würde noch interessieren, welche du Entscheidung triffst, einerseits auf Ebene Partnerwahl und Gestaltung der Beziehung. Thx!

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    • donnerundpflicht

      Lücken sind zwangsläufig und mein Begriff der Vervollkommnung schließt diese ein: Er ist ein Prozessbegriff. Deswegen geht es hier auch vielmehr um ein Streben.

      Natürlich kann man sich ergänzen, was aber voraussetzt, dass sich beide etwas zu geben haben, also auf unterschiedlichen Gebieten stärker sind als der jeweils andere. Merke: Hier geht es nur um Stärke nicht um Tugend.

      Nun, dann musst du zeigen, dass Liebe nicht auf der Entwicklungsdimension basiert. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass ein starkes Gefälle der Stärke wirkliche Liebe ausschließt, denn diese kann nur auf Augenhöhe geschehen. Natürlich können die Hormone durchdrehen und gemäß des Topf-Deckel-Prinzips kann der totale Beschützer das total Schutzsuchende lieben und beide sich verlieben. Aber es ist nicht die Art der Liebe, die auch dem Begriff angemessen ist.

      Mit anderen Worten: Wenn sich der eine dauerhaft um den anderen kümmert, leidet die Liebe, weil sie nicht wirklich auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe basiert. Liebe ohne Augenhöhe? Als Gefühl denkbar, aber nicht im totalen Sinne (Emotional, spirituell, körperlich, geistig, moralisch).

      Liebe kann erst frei sein, wenn sie nicht durch Abhängigkeit oder einseitigen Nutzen gefärbt ist. Deswegen sind meine Prämissen alles andere als wacklig. :)

      Das Letzte verstehe ich nicht. Willst du mir mir gehen? :)

      Viele Grüße
      Sascha

  2. Erik

    Hm, ok, dann habe ich das verstanden wie du das meinst. Ich kann es aus meiner Erfahrung noch nicht bewerten. Die letzte Frage hat sich erledigt. Ich nehme an, dass du für dich sowohl Partnerwahl als auch Beziehung genau nach den Prämissen aufziehst wie du es hier ausführst. Dann wird das ja vielleicht noch was mit uns :)

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