Das Unbehagen der Moderne

Once you settle into a story about your pain, you are extremely reluctant to challenge it. It was like a leash I had put on my distress to keep it under some control. I feared that if I messed with the story I had lived with for so long, the pain would be like an unchained animal, and would savage me.1

Hari entwirft in seinem Buch Lost Connections eben ein solches Bild, wie wir es vom Unbehagen der Moderne entwickeln. Es geht um ein gefährliches Raubtier, dass droht uns zu zerfleischen.

Eine Geschichte gibt dem formlosen Unbehagen eine konkrete, raubtierhafte Gestalt und fesselt es an eine Leine. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht auf die Akkuratesse seiner Metapher konzentrieren. Doch diese Bildsprache zeigt uns, dass die zugrunde liegende Struktur seines Erlebens seiner Depression eben derjenigen entspricht, mit der sich uns das Unbehagen der Moderne präsentiert: Es gibt das Chaos, das Dickicht mit dem lauernden Raubtier. Wir suchen nach Kontrolle. Wir halten uns an Gewissheit fest. Wir wissen, dass wir das andauernde Unbehagen nicht aushalten. Vielleicht nicht aushalten wollen? Wir glauben lieber an das Monster im Schrank und behalten die Schranktür im Auge, als den Blick schweifen zu lassen, ohne zu wissen, was auf uns lauert.

Doch das Unbehagen lässt uns Gespenster sehen. Und wer an Gespenster glaubt, übersieht vielleicht die glühenden Augen, die in Wahrheit auf uns lauern.

So stößt Hari auf eine gnadenlose Wahrheit: Er glaubt an die Geschichte, dass seine Depression nichts weiter ist als eine Problem seiner Gehirnchemie. Doch egal wie viele Antidepressiva er zu sich nimmt, Unbehagen und Traurigkeit kommen wieder.1

Wollen wir das Unbehagen der Moderne beenden, müssen wir Hari als Vorbild nehmen. Wir müssen falsche Propheten mit ihren falschen Heilsversprechen entlarven. Wir glauben, dass das Leben dazu da ist, uns glücklich zu machen. Dabei hat Frankl es schon Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt:

Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, daß es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben uns von erwartet!2

Das Geschenk des Lebens verpflichtet uns zu verantwortlichem Umgang. Das Leben dient nicht unserem Glück, sondern wir sind diejenigen, die den Dienst zu leisten haben. Wer sich dieser Regel verweigert, wird sein Unbehagen niemals ablegen können — allenfalls kurz und auf Kredit betäuben können.


  1. Johann Hari (2018): Lost Connections. Uncovering the Real Causes of Depression and the Unexpected Solutions, Croydon: Bloomsbury. 

  2. Viktor Frankl (2018 (Ersterscheinung: 1946)): … Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Pößneck: Penguin Verlag. 

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